Die Diskussionen über die Arbeitsaussichten in Europa werden verständlicherweise von den Auswirkungen der Krise um das neuartige Coronavirus überschattet. Ein Diskussionspapier des McKinsey Global Institute (The future of Work in Europe) betrachtet die Situation längerfristig, bis 2030.
Untersuchung verschiedener lokaler Arbeitsmärkte in Europa
Anhand einer detaillierten Analyse von 1.095 lokalen Arbeitsmärkten in ganz Europa, darunter 285 Metropolregionen, werden tiefgreifende Trends untersucht. Es handelt sich dabei um Trends, die sich in den letzten Jahren auf dem Kontinent vollzogen haben und auch in Zukunft vollziehen werden. Dazu gehören der zunehmende Einsatz von Automatisierung und die zunehmende geografische Konzentration der Beschäftigung. Des Weiteren die Analyse die Schrumpfung des Arbeitskräfteangebots und die Verschiebung des Branchen- und Berufsmixes.
Einige dieser Trends könnten durch die Pandemie beschleunigt werden. Die Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine beträchtliche Anzahl von Berufen längerfristig wahrscheinlich durch Automatisierung verdrängt werden. Zusätzlich sind auch die Berufe kurzfristig durch die Coronavirus-Krise gefährdet. McKinsey stellt außerdem fest, dass der Effekt der Automatisierung auf die Verteilung der Arbeitsplätze in Europa möglicherweise nicht so signifikant ist, wie oft angenommen wird.

Während Europas Arbeitskräfte schrumpfen, wird die Automatisierung Berufe und demographische Gruppen ungleichmäßig betreffen
Nach der Finanzkrise 2008 stieg die Arbeitslosigkeit in Europa stark an. Die Krise begann sich erst fünf Jahre später, nach einer Double-Dip-Rezession, zu erholen. Die Beschäftigung wuchs in den Folgejahren bis zur Gesundheitskrise 2020 stark an. Unter der Annahme einer ähnlichen langfristigen Erholung nach der Pandemie bezieht sich ein Schlüsselaspekt der Beschäftigungsgeschichte, eher auf das Angebot an Arbeitskräften. Weniger auf die Nachfrage nach ihnen unter den Unternehmen.
Der Einsatz von Automatisierung wird in den nächsten zehn Jahren zunehmen. Eine schrumpfende Erdbevölkerung könnte bis 2030 bedeuten, dass nicht genügend Arbeitskräfte mit den erforderlichen Qualifikationen zu finden sind. Dies impliziert möglicherweise zudem, dass nicht alle bestehenden und neu entstehenden Arbeitsplätze in Europa besetzen werden können. Es ist die Aufgabe der Regierungen, Schulen, Unternehmen und vielen weiteren Institutionen dies zu verhindern.
Europas schrumpfende Erwerbsbevölkerung stellt eine potenzielle Herausforderung für Arbeitgeber im nächsten Jahrzehnt dar
Frühere Forschungen von MGI schätzten, dass etwa die Hälfte aller Arbeitstätigkeiten weltweit das technische Potenzial haben, durch die Anpassung der derzeit demonstrierten Technologien automatisiert zu werden. Dabei gibt es jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Das Tempo und das Ausmaß der Automatisierung wird jedoch in jedem Unternehmen unterschiedlich schnell ausfallen. Es hängt ab von dem Lohnniveau, der Akzeptanz durch Gesetzgeber und Verbraucher, den technischen Möglichkeiten und vielen anderen Faktoren.

Mögliche Szenarien
McKinsey hat in seiner Forschung verschiedene Szenarien bezüglich des Tempos der Automatisierung in Europa vor der Pandemie durchgespielt.
Im mittleren Szenario könnten bis 2030 etwa 22 % der Arbeitstätigkeiten in der EU (das entspricht 53 Millionen Arbeitsplätzen) automatisiert werden. Obwohl dieser Wert höher sein könnte, wenn die Pandemie das Tempo der Automatisierungseinführung beschleunigt. Es wird davon ausgegangen, dass bis 2030 die Coronavirus-Krise hinter uns liegt und neu geschaffene Arbeitsplätze diesen automatisierungsbedingten Arbeitsplatzverlust ganz oder teilweise kompensieren würden. Selbst wenn es zu einem Netto-Rückgang an Arbeitsplätzen kommt, wäre es für europäische Arbeitgeber dennoch eine Herausforderung, verfügbare Stellen zu besetzen.
Wenn sich der Kontinent bis 2030 nur auf die Zahl der Arbeitsplätze vor der Pandemie erholen könnte, müsste die Beschäftigungsquote immer noch um drei Prozentpunkte steigen, um die voraussichtlich verfügbaren Stellen zu besetzen. Selbst bei einem Rückgang von 9,4 Millionen Arbeitsplätzen (ca. 4 % bzw. bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von – 0,3 %) gegenüber dem Niveau vor der Pandemie würden die Beschäftigungsquoten stabil bleiben.
Der schrumpfende Arbeitskräftepool ist ein Hauptgrund. Es wird erwartet, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Europa bis zum Ende des Jahrzehnts um etwa 13,5 Millionen oder 4 % abnehmen wird. Besonders stark wird der Rückgang in Deutschland (fast 8 % oder etwa 4,0 Millionen Menschen), Italien (fast 7 % oder etwa 2,5 Millionen Menschen) und Polen (9 % oder etwa 2,3 Millionen Menschen) sein. Eine schrumpfende Arbeitswoche könnte den Druck weiter erhöhen. Seit 2000 ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit pro Kopf um mehr als eine (oder fast 3 %) auf 37,1 Stunden gesunken
Die Entscheidungen, die die europäischen Staats- und Regierungschefs heute treffen, werden bestimmen, wie sich die Zukunft der Arbeit entwickelt
Jeder der mehr als 1.000 lokalen Arbeitsmärkte, die analysiert wurden, wird seine eigenen Prioritäten setzen müssen, um die Probleme von heute und die Eventualitäten von morgen anzugehen. Diese 4 Themen haben allerdings viele Regionen gemeinsam:
Europa muss mehr Ausbildungs- und Karrierewege schaffen
- Der Zugang zu Arbeitsplätzen in dynamischen Wachstumszentren muss erweitert werden
- Schrumpfende Arbeitsmärkte erfordern gezielte wirtschaftliche Entwicklungsstrategien
- Europa muss die Erwerbsbeteiligung weiter erhöhen
- Europa muss mehr Ausbildungs- und Karrierewege schaffen
Jedes Land in Europa muss sicherstellen, dass sein Bildungssystem die Schüler auf den Erfolg vorbereitet. Dabei müssen Schwerpunkte auf Fähigkeiten gesetzt werden, die für gefragte Arbeitsplätze erforderlich sind, wie z.B. MINT-Fähigkeiten. Die Schaffung von Partnerschaften zwischen Pädagogen und Arbeitgebern könnte bei der Gestaltung von berufsrelevanten Lehrplänen helfen.
Der Zugang zu Arbeitsplätzen in dynamischen Wachstumszentren muss erweitert werden
Um ihr Wachstumspotenzial auszuschöpfen, müssen die dynamischen Wachstumsstädte Europas weiterhin einen Zustrom neuer Arbeitskräfte in etwa der gleichen Geschwindigkeit wie in der Vergangenheit anziehen. Eine Möglichkeit, die Mobilität zu erhöhen, sind Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur rund um die großen Ballungsräume, um die Möglichkeiten des Pendelns zu erweitern. Die Behebung des Mangels an bezahlbarem Wohnraum in diesen schnell wachsenden städtischen Gebieten würde Menschen, die für bessere Möglichkeiten umziehen wollen, die Möglichkeit dazu geben.
Geografische Mobilität allein kann dieses Problem nicht lösen. Wenn die Arbeitnehmer nicht zu den Arbeitsplätzen ziehen können, müssen die Arbeitsplätze vielleicht zu ihnen ziehen. Da Homeoffice auf dem Vormarsch ist, können Arbeitgeber auch Fernarbeiter einstellen oder sich an Freiberufler und Outsourcing wenden, um ihren Talentpool zu erweitern.
Schrumpfende Arbeitsmärkte erfordern gezielte wirtschaftliche Entwicklungsstrategien
Für politische Entscheidungsträger birgt die Aussicht auf ein noch stärker polarisiertes Beschäftigungs-, BIP– und Bevölkerungswachstum das Risiko, soziale Spannungen und Ungleichheit zu verschärfen. Viele Fragen zu Industriepolitik, Qualifikationsentwicklung, Stadtentwicklung und Mobilität werden diskutiert werden müssen. Einige von ihnen beinhalten schwierige Kompromisse. Die politischen Entscheidungsträger werden entscheiden müssen, ob und wie sie öffentliche Gelder investieren oder private Gelder in Gebiete mit relativem Niedergang locken, um deren Wirtschaft wiederzubeleben. EU-Programme wie Horizont 2020 und die Kohäsionspolitik können Quellen der Finanzierung und Zusammenarbeit sein.
Eine gängige Strategie, die von lokalen Regierungen verfolgt wird, ist die Bereitstellung wirtschaftlicher Anreize, um Unternehmen zur Ansiedlung zu bewegen. Subventionen können Teil des Instrumentariums sein. Diese müssen aber die Wettwerbspolitik respektieren und einen ganzheitlichen wirtschaftlichen Entwicklungsplan vorantreiben. Regionen, die Arbeitskräfte verlieren, müssen möglicherweise die Investitionen in lokale Bildungseinrichtungen erhöhen oder finanzielle Anreize bieten, um qualifizierte Außenseiter anzuziehen.

Europa muss die Erwerbsbeteiligung weiter erhöhen
Sobald sich die Wirtschaft von der COVID-19-Krise erholt hat, könnte es notwendig sein, die Erwerbsbeteiligung zu erhöhen, um mit der abnehmenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter umzugehen. Um die Beschäftigungsquoten zu erhöhen, müssen die nationalen Regierungen möglicherweise umfassende Arbeitsmarkt- und Rentenreformen in Betracht ziehen. Ein logischer Ansatzpunkt ist es, mehr arbeitswillige Menschen aus dem Erwerbsleben zu holen und sich dabei auf die demografischen Gruppen zu konzentrieren, bei denen es noch Wachstumspotenzial gibt. Einschließlich der über 55-Jährigen und der Frauen.
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen liegt nach wie vor deutlich unter der der Männer. Dies liegt zum Teil daran, dass Frauen in Westeuropa immer noch 2/3 aller unbezahlten Betreuungsarbeit leisten. Arbeitgeber könnten mehr Frauen einstellen, indem sie flexiblere Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit und die Möglichkeit zum Homeoffice anbieten. Auch steuerliche Anreize für Zweitverdiener in einer Familie und die Sicherstellung, dass öffentliche Betreuungsprogramme für Kinder/Senioren weiterhin verfügbar sind, sorgen dafür, dass mehr Frauen arbeiten.
Fazit
Regierungen und Unternehmen müssen sich auf langfristige Arbeitsmarkttrends konzentrieren, wenn sie sich auf die Zeit nach der Pandemie vorbereiten. Mit der beschleunigten Einführung der Automatisierung könnte die Demografie zu Europas Gunsten wirken. Den Menschen muss geholfen werden, neue Möglichkeiten zu finden und sich auf die Arbeitsplätze von Morgen vorzubereiten. Dies wird eine Herausforderung für jede Gemeinde auf dem gesamten Kontinent sein.